Paulo Coelho: Am Ufer des Rio Piedra saß ich und weinte (II)
Da ließ ich eine seiner Hände los, nahm ein Glas und stellte es an den Rand des Tisches.
››Es wird hinunterfallen‹‹, sagte er.
››Genau. Ich möchte, dass du es hinunterstößt.‹‹
››Ein Glas zerbrechen?‹‹
Ja, ein Glas zerbrechen. Eine auf den ersten Blick einfache Geste, die jedoch Ängste weckte, die wir niemals genau begreifen werden. Was ist schon dabei, ein billiges Glas hinunterfallen zu lassen, aus Versehen haben wir das doch alle schon einmal getan.
››Ein Glas zerbrechen?‹‹ wiederholte er. ››Warum?‹‹
››Ich könnte es erklären‹‹, antwortete ich. ››Aber eigentlich geht es nur um das Zerbrechen.‹‹
››Für dich?‹‹
››Natürlich nicht.‹‹
Er schaute auf das Glas an der Tischkante, fürchtete, es könnte hinunterfallen.
›Dur würdest es ein Ritual des Übergangs nennen‹, hätte ich gern gesagt. ›Es ist verboten. Gläser zerbracht man nicht einfach nur so. In einem Restaurant oder zu Hause achten wir immer darauf, dass ein Glas nicht zu nahe an der Tischkante steht. Unsere Umwelt erwartet von uns, dass wir aufpassen, dass die Gläser nicht auf den Boden fallen. Aber wenn wir sie dann doch aus Versehen zerbrechen, sehen wir, dass es halb so schlimm war. Der Kellner sagt ‘das macht nichts’, und ich habe in einem Restaurant noch nie erlebt, dass ein zerbrochenes Glas mit auf der Rechnung stand. Gläser zu zerbrechen gehört zu unserem Leben, und wir fügen damit weder uns noch dem Restaurant oder dem Nächsten einen Schaden zu.‹
Ich schlug auf den Tisch. Das Glas zitterte, fiel aber nicht hinunter.
››Vorsicht!‹‹ sagte er instinktiv.
Ich ließ nicht locker: ››Stoß es hinunter!‹‹
Zerbrich das, dachte ich bei mir, weil es eine symbolische Geste ist. Begreif doch, dass ich in mir sehr viel wichtigere Dinge zerbrochen habe als ein Glas, und ich bin froh darüber. Sieh doch, wie du mit dir kämpfst, und zerbrich das Glas.
Unsere Eltern bringen uns nicht nur bei, mit Gläsern vorsichtig umzugehen, sondern auch mit unseren Körpern. Sie haben uns gepredigt, dass Jugendlieben unmöglich sind, dass wir Männer dem Priesterleben nicht abspenstig machen sollen, dass Menschen keine Wunder tun und niemand auf eine Reise geht, ohne zu wissen, wohin.
Zerbrich bitte dieses Glas, und befrei uns damit von all diesen verdammten Vorurteilen, dieser Manie, man müsse alles erklären und nur das tun, was die anderen gutheißen.
››Zerbrich dieses Glas‹‹, bat ich abermals.
Er blickte mir fest in die Augen. Dann fuhr er mit der Hand über die Tischplatte, bis er es berührte. Mit einer raschen Bewegung stieß er es hinunter.
Das Klirren des zersplitternden Glases ließ alle aufhorchen. Anstatt sich zu entschuldigen, sah er mich lächelnd an – und ich lächelte zurück.
››Mach nichts‹‹, rief der junge Kellner, der woanders bediente.
Doch er hörte nicht hin. Er war aufgestanden, hatte mich bei den Haaren gepackt und küsste mich.
Ich packte ihn auch bei den Haaren, drückte ihn an mich, biss seine Lippen, fühlte, wie seine Zunge sich in meinem Mund bewegte. Auf diesen Kuss hatte ich lange gewartet – er war an den Flüssen unserer Kindheit entstanden, als wir noch nicht wussten, was Liebe bedeutete. Auf den Kuss, der in der Luft lag, als wir älter wurden, der mit der Erinnerung an eine Medaille um die Welt reiste, der zwischen den Stapeln von Lehrbüchern für ein Staatsamt verlorenging. Auf einen Kuss, der so viele Male verlorenging und niemals wiedergefunden wurde. In dieser Minute, die der Kuss dauerte, lagen Jahre der Suche, der Enttäuschungen und unerfüllbarer Träume.
Ich küsste ihn so heftig wie er mich. Die wenigen Leute in der Bar werden geguckt und gedacht haben, dass sie nur einen Kuss sahen. Sie wussten nicht, dass in diesem Kuss mein ganzes Leben und sein ganzes Leben lag, das Leben alle jener, die warteten, träumten und unter der Sonne ihren Weg suchten.
In diesem Kuss lag alle Freude, die ich je erlebt hatte.
››Es wird hinunterfallen‹‹, sagte er.
››Genau. Ich möchte, dass du es hinunterstößt.‹‹
››Ein Glas zerbrechen?‹‹
Ja, ein Glas zerbrechen. Eine auf den ersten Blick einfache Geste, die jedoch Ängste weckte, die wir niemals genau begreifen werden. Was ist schon dabei, ein billiges Glas hinunterfallen zu lassen, aus Versehen haben wir das doch alle schon einmal getan.
››Ein Glas zerbrechen?‹‹ wiederholte er. ››Warum?‹‹
››Ich könnte es erklären‹‹, antwortete ich. ››Aber eigentlich geht es nur um das Zerbrechen.‹‹
››Für dich?‹‹
››Natürlich nicht.‹‹
Er schaute auf das Glas an der Tischkante, fürchtete, es könnte hinunterfallen.
›Dur würdest es ein Ritual des Übergangs nennen‹, hätte ich gern gesagt. ›Es ist verboten. Gläser zerbracht man nicht einfach nur so. In einem Restaurant oder zu Hause achten wir immer darauf, dass ein Glas nicht zu nahe an der Tischkante steht. Unsere Umwelt erwartet von uns, dass wir aufpassen, dass die Gläser nicht auf den Boden fallen. Aber wenn wir sie dann doch aus Versehen zerbrechen, sehen wir, dass es halb so schlimm war. Der Kellner sagt ‘das macht nichts’, und ich habe in einem Restaurant noch nie erlebt, dass ein zerbrochenes Glas mit auf der Rechnung stand. Gläser zu zerbrechen gehört zu unserem Leben, und wir fügen damit weder uns noch dem Restaurant oder dem Nächsten einen Schaden zu.‹
Ich schlug auf den Tisch. Das Glas zitterte, fiel aber nicht hinunter.
››Vorsicht!‹‹ sagte er instinktiv.
Ich ließ nicht locker: ››Stoß es hinunter!‹‹
Zerbrich das, dachte ich bei mir, weil es eine symbolische Geste ist. Begreif doch, dass ich in mir sehr viel wichtigere Dinge zerbrochen habe als ein Glas, und ich bin froh darüber. Sieh doch, wie du mit dir kämpfst, und zerbrich das Glas.
Unsere Eltern bringen uns nicht nur bei, mit Gläsern vorsichtig umzugehen, sondern auch mit unseren Körpern. Sie haben uns gepredigt, dass Jugendlieben unmöglich sind, dass wir Männer dem Priesterleben nicht abspenstig machen sollen, dass Menschen keine Wunder tun und niemand auf eine Reise geht, ohne zu wissen, wohin.
Zerbrich bitte dieses Glas, und befrei uns damit von all diesen verdammten Vorurteilen, dieser Manie, man müsse alles erklären und nur das tun, was die anderen gutheißen.
››Zerbrich dieses Glas‹‹, bat ich abermals.
Er blickte mir fest in die Augen. Dann fuhr er mit der Hand über die Tischplatte, bis er es berührte. Mit einer raschen Bewegung stieß er es hinunter.
Das Klirren des zersplitternden Glases ließ alle aufhorchen. Anstatt sich zu entschuldigen, sah er mich lächelnd an – und ich lächelte zurück.
››Mach nichts‹‹, rief der junge Kellner, der woanders bediente.
Doch er hörte nicht hin. Er war aufgestanden, hatte mich bei den Haaren gepackt und küsste mich.
Ich packte ihn auch bei den Haaren, drückte ihn an mich, biss seine Lippen, fühlte, wie seine Zunge sich in meinem Mund bewegte. Auf diesen Kuss hatte ich lange gewartet – er war an den Flüssen unserer Kindheit entstanden, als wir noch nicht wussten, was Liebe bedeutete. Auf den Kuss, der in der Luft lag, als wir älter wurden, der mit der Erinnerung an eine Medaille um die Welt reiste, der zwischen den Stapeln von Lehrbüchern für ein Staatsamt verlorenging. Auf einen Kuss, der so viele Male verlorenging und niemals wiedergefunden wurde. In dieser Minute, die der Kuss dauerte, lagen Jahre der Suche, der Enttäuschungen und unerfüllbarer Träume.
Ich küsste ihn so heftig wie er mich. Die wenigen Leute in der Bar werden geguckt und gedacht haben, dass sie nur einen Kuss sahen. Sie wussten nicht, dass in diesem Kuss mein ganzes Leben und sein ganzes Leben lag, das Leben alle jener, die warteten, träumten und unter der Sonne ihren Weg suchten.
In diesem Kuss lag alle Freude, die ich je erlebt hatte.
jewel - 26. Sep, 19:50